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13.07.2017

Digitale Zwillinge aus virtuellen Baugruppen

Eine Simulationslösung reduziert Inbetriebnahmezeiten und Projektentwicklungskosten

Digitale Zwillinge aus virtuellen Baugruppen

Eine Simulationslösung reduziert Inbetriebnahmezeiten und Projektentwicklungskosten

Immer mehr Maschinen- und Anlagenhersteller digitalisieren ihre Produktionsanlagen, wodurch sich eine Vielzahl neuer Möglichkeiten ergeben: Unternehmen können beispielsweise mithilfe von „digitalen Zwillingen“ der Maschinen und Anlagen neue Service-Dienstleistungen anbieten. Cloudbasierte Kundenportale bilden, kombiniert mit Echtzeitdaten aus der Produktion, die Basis neuer Service-Business-Modelle, die es z.B. erlauben, Wartungsintervalle anhand des Anlagenzustands flexibilisiert und Ersatzteile bedarfsgerecht bereitzustellen. So lassen sich aus intelligenten Komponenten und Baugruppen flexible Produktionssysteme konfigurieren, die durch Steuerungs- und Optimierungssoftware miteinander verknüpft sind. Auf dieser Basis werden mithilfe virtueller Baugruppen digitale Zwillinge realisiert, die nicht vom realen System zu unterscheiden sind – ein Aspekt, von dem Maschinen- und Anlagenbauer stark profitieren. Durch die Kombination realer und virtueller Komponenten können Unternehmen die Anlage bereits in der Konzeptphase „betreiben“. Sie führen damit reale Inbetriebnahmen an virtuellen Komponenten durch und nutzen ihre Schattenanlagen parallel zur realen Produktion.

 

Flexible Produktionsanlagen aus konfigurierbaren Baugruppen (CPS)

Unternehmen können Maschinen und Anlagen heute nur wirtschaftlich, in hoher Qualität und mit kurzen Lieferzeiten herstellen, wenn sie diese weitgehend aus wiederverwendbaren Modulen (zumeist mechatronischen Baugruppen) konfigurieren. Diese Tendenz spiegelt sich auch in der zunehmenden Produktindividualisierung wider: Individuelle Kundenwünsche führen zu sinkenden Losgrößen. Das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 hat sich zum Ziel gesetzt, die deutsche Industrie hierfür zu rüsten [1]. Gemäß dem Referenzmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) [2] ordnet man den Komponenten weitere Informationen wie die virtuelle Repräsentation und fachliche Funktionalität zu. Die Vision von adaptiven und selbstorganisierenden Produktionsanlagen basiert hierbei auf den sogenannten „Cyber-Physical Systems“ (CPS). Diese werden durch die Verknüpfung realer (physischer) Objekte und Prozesse mit informationsverarbeitenden (virtuellen) Objekten und Prozessen über offene Informationsnetze charakterisiert [3]. Die Modelle gehen vorwiegend davon aus, dass die Steuerungsfunktionalität autark in die CPS implementiert ist und diese ohne Rückwirkung miteinander gekoppelt sind. In der Praxis steuern reale Steuerungen (PLC, CNC, RC) reale Baugruppen und übernehmen somit die Koordination des gesamten Systems. Um individuelle Systemlösungen abzusichern, ist neben einem Modell- und Integrationstest auch ein Systemtest unter Berücksichtigung des Datenaustauschs in Steuerungsechtzeit zwingend notwendig.

 

Digitale Zwillinge aus virtuellen Baugruppen

Virtuelle Baugruppen, die sich hinsichtlich der Schnittstellen, des Verhaltens in Steuerungsechtzeit und der Parametrierung 1:1 wie reale Baugruppen verhalten, ermöglichen die Erstellung digitaler Zwillinge, die ihren realen Gegenübern zu 100 Prozent entsprechen. Sie dienen als Grundlage für belastbare Integrations- und Systemtests, mit denen Unternehmen neue bzw. adaptierte Produktionsanlagen noch vor dem Produktionshochlauf hinsichtlich Qualität und Performance absichern können. Die Voraussetzung hierfür sind Hardware-in-the-Loop Echtzeitsimulationssysteme mit virtuellen Baugruppen, die Anwender durch reale Steuerungen im Sinne eines Systemtests steuern [4]. Das Simulationssystem steht bereits in der Entwicklungsphase allen Unternehmensbereichen als Integrationsplattform zur Verfügung. Es begleitet die Anlage über ihr gesamtes Produktleben  und ist jederzeit verfügbar für virtuelle Inbetriebnahmen, Anlagenoptimierungen im Betrieb, Fernwartung, Mitarbeiter- und Kundenschulungen etc. Simulationsmodelle gestatten Planungsansätze, die die reale Welt möglichst ohne Einschränkungen abbilden, um flexible und rekonfigurierbare Produktionssysteme verwirklichen zu können. Die virtuellen Baugruppen sind in einer Bibliothek abgelegt und unterstützen den schnellen Aufbau neuer virtueller Anlagen.

 

Virtueller Zwilling „doubelt“ reale Komponenten

Ein digitaler Zwilling aus virtuellen Komponenten verhält sich an den Schnittstellen (in Steuerungsechtzeit) und hinsichtlich der Funktionalität (Logik, Kinematik, Dynamik und Materialfluss) wie die realen Komponenten. Somit können Maschinen- und Anlagenbauer Parameter der realen Komponenten, z.B. der Positionierantriebe, inklusive der Betriebsarten 1:1 bidirektional austauschen. Digitale Zwillinge sind in allen Phasen des Lebenszyklus einer Produktionsanlage wichtig: In der ersten Phase „Design“ geht es um die Absicherung komplexer Anforderungen aus der geplanten Produktion, schnelle Entwicklungszyklen und die Erfüllung strenger, regulatorischer Anforderungen. Der zweite Schritt ist die „Herstellung“ (manufacturing), in der der Zwilling für mehr Effizienz, Qualität und eine reibungslose Überführung in die Produktion (inklusive Factory Acceptance Test (FAT)) sorgt. In der dritten Phase „Nutzung“ (operation) dient er einer besseren Verfügbarkeit der Maschinen und ermöglicht die Implementierung neuer Service-Konzepte. Im letzten Schritt, der „Wiederverwertung“ (recycling) sorgt der digitale Zwilling für die Ersatzplanung oder eruiert das Upcycling-Potenzial.

 

Virtuelle Inbetriebnahme im Millisekunden-Takt

Die Inbetriebnahme einer Anlage gehört zu den kritischsten Phasen bei der Realisierung flexibler Produktionsanlagen. Die Geschwindigkeit und Qualität des zugehörigen Produktionshochlaufs beeinflusst die Kosten des Produkts bei kleinen Losgrößen überproportional. Durch die vorgezogene Inbetriebnahme realer Steuerungen an echtzeitfähigen virtuellen Komponenten können Anwender diese Phase signifikant beschleunigen und qualitativ verbessern. Anders als bei aufwendigen und kostspieligen „Trial-and-Error-Konzepten“ an realen Anlagen ist es möglich, die Inbetriebnahme vollumfänglich ohne Risiken bis hin zum FAT durchzuführen. Bei innovativen Echtzeit-Simulationssystemen lassen sich nicht nur die Steuerungstechnik (PLC, CNC) einer Maschine, sondern sogar kompletter Anlagen über die jeweiligen realen Feldbusse an ein Simulationssystem anschließen (Hardware-in-the-Loop-Simulation).

 

Großanlagen beliebig erweitern

Durch ein Clustering von Simulationsrechnern können Unternehmen auch Großanlagen simulieren und beliebig erweitern – Rechenleistung spielt dabei keine Rolle mehr. Das Simulationssystem testet im Detail das Zusammenspiel zwischen Steuerung und der späteren Maschine in Bezug auf Qualität, Performance und bestimmte Produktionsabläufe - und das in Steuerungsechtzeit, im Millisekunden-Takt. Die Ergebnisse können Anwender dann ohne Einschränkungen auf die reale Anlage übertragen. Zudem haben sie die Möglichkeit, mit einer Simulationslösung neue Konzepte zu analysieren und vorab zu prüfen – ohne kostspielige Prototypen herstellen zu müssen. Die Fabriksimulation ermöglicht deterministisch exakte Performance-Aussagen unter Berücksichtigung aller Komponenten und Baugruppen. Zudem arbeiten verschiedene Unternehmensabteilungen, etwa mechanische und Elektrokonstruktion, Produktion, IT und Vertrieb, so enger zusammen: Auf Basis der Simulation können sie gemeinsam diskutieren, welche Lösung die beste ist, und dies unmittelbar prüfen.

 

Qualität für den gesamten Lebenszyklus

Ein gut eingeführtes Simulationssystem, mit dem ein Unternehmen die reale Steuerungstechnik in Echtzeit überprüfen kann, spart Kosten und Zeit. Reguläre und irreguläre Betriebszustände lassen sich umfassend testen, die Anbindung des vorab simulierten Systems an übergeordnete Leitsysteme wird deutlich beschleunigt. Am Ende eines solchen Engineering-Prozesses stehen ausgereifte Systeme, die die hohen qualitativen Anforderungen an eine Anlage erfüllen. Eine Simulationslösung entfaltet ihren Nutzen über den gesamten Lebenszyklus vernetzter Anlagen hinweg – bei allen Rekonfigurationen, die im Laufe der Zeit notwendig sind.

 

Auch die Homag Group, ein führender Hersteller von Maschinen und Anlagen für die holzverarbeitende Industrie, setzt auf die Hardware-in-the-LoopSimulation. Das Ziel: Die Dauer von Außen- und Innenmontagen zu verkürzen sowie auf gleicher Fläche und mit den gleichen Personal-Ressourcen ein wesentlich höheres Volumen zu ermöglichen. Heute kann das Unternehmen dank virtueller Simulationen auf aufwendige Tests an realen Komponenten verzichten. Das ist natürlich auch im Interesse der Kunden, die ihre Anlagen so noch kurzfristiger und fehlerfrei erhalten. Aufgrund eines schnelleren Produktionsstarts können sie dann zeitnah damit beginnen, ihre Produkte auszuliefern.

 

[1]     N.N.: „Zukunftsprojekt Industrie 4.0“, BMBF, Internet: https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html.

[2]     Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZWEI): Das Referenzarchitekturmodel Industrie 4.0 (RAMI 4.0), 2015.

[3]     Geisberger, E.; Broy, M.: Integrierte Forschungsagenda Cyber-Physical Systems, Bd. 1 Berlin, Heidelberg: Springer 2012, DOI: 10.1007/978-3-642-29099-2

[4]     Röck, S. 2007. „Echtzeitsimulation von Produktionsanlagen mit realen Steuerungselementen.“ Dissertation , Universität Stuttgart.